Off-Label-Use: Der Fall Methylphenidat1
für den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Die Probleme der Ablehnung des Off-Label-Use von Neuro-Psychopharmaka durch die
Krankenkassen vor dem Hintergrund des Urteils des Bundessozialgerichts vom März 2002
wurden hier inzwischen mehrfach diskutiert (Nervenarzt 73 (2002) 796-799; 1125-1127).
Die DGPPN hat einen Katalog von Indikationen, in denen Off-Label-Use von
Psychopharmaka als dem Stand der Wissenschaft entsprechend anzusehen ist (in
Psycho 28 (2002) 431-439 und bei www.dgppn.de), präsentiert.
Der Einsatz des Raucher-Entwöhnungsmittels Bupropion und des Antikonvulsivums
Lamotrigin bei affektiven Störungen wurde als exemplarisches Grundsatzproblem
dargelegt. Ein weiteres solches Beispiel ist der Einsatz von Methylphenidat (Ritalin,Equasym, Medikinet) bei der residualen Aufmerksamkeitsstörung (ADS/ADHS) im
Auch vor dem Hintergrund einer Verdreißigfachung des Verordnungsvolumens zu Lasten
der GKV in den letzten 10 Jahren (Abb. 1) und in Sorge vor einer mißbräuchlichen
Anwendung von methylphenidat hat das Bundesminsiterium für Gesundheit und Soziale
Sicherung (BMGS) inzwischen 2 multidisziplinäre Konsensuskonferenzen unter
Beteiligung auch von Angehörigenverbänden initiiert. Implizites Ziel dieser Initiative ist, die
Verordnung von Methylphenidat an bestimmte Voraussetzungen zur Strukturqualität auf
Seiten der Verordner zu binden. Laut Fachinformation "hat Methylphenidat bei nicht
bestimmungsgemäßem Gebrauch ein stark ausgeprägtes psychisches
Abhängigkeitspotential. Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch in den zugelassenen
Anwendungsgebieten ist die Abhängigkeitsgefahr gering bzw. praktisch nicht vorhanden.
Missbrauch und Abhängigkeit scheinen auch bei Jugendlichen und Erwachsenen, die als
Kinder Methylphenidat zur Therapie hyperkinetischer Verhaltensstörungen erhalten
haben, nicht vorzukommen. Auch bei Erwachsenen mit Narkolepsie spielt das
Abhängigkeitsrisiko praktisch keine Rolle."
Verordnungen (Mio. DDD) von Methylphenidat zu Lasten der GKV
1Nervenarzt 73 (2002) 1210-1212, Psycho, im Druck
Die Verordnung ist mit einem vertretbaren Nutzen-Risiko-Verhältnis also nur dann
vertretbar, wenn die Indikation zutrifft. Deshalb macht die Initiative des BMGS
grundsätzlich Sinn. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Bindung an Voraussetzungen
zur Strukturqualität oder nicht eher Maßnahmen zur Sicherung der Ergebnisqualität
sachgerecht sind. Wird Methylphenidat außerhalb dieser Indikationen (d.h. auch
außerhalb eines therapeutischen Gesamtkonzeptes) verordnet, also "off-label", so kann
man sich eines vertretbaren Nutzen-Risiko-Verhältnisses nicht mehr sicher sein.
Methylphenidat ist zugelassen zur Anwendung bei "hyperkinetischen Verhaltensstörungen
bei Kindern im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie" und bei "zwanghaften
Schlafanfällen während des Tages (Narkolepsie) im Rahmen einer therapeutischen
Gesamtstrategie". In der Vorschlagsliste verordnungsfähiger Arzneimittel (sog. Positivliste)
des Institutes für die Arzneimittelverordnung in der gesetzlichen Krankenversicherung des
(GKV) BMGS ist die Indikation bei Verordnung zu Lasten der GKV eingeschränkt: "nur zur
Behandlung des hyperkinetischen Syndroms". In jedem Fall handelt es sich bei
Verordnung an Erwachsene (jenseits des 18. Lebensjahres) zum Zweck der Behandlung
einer Aufmerksamkeitsstörung (ADS/ADHS) um Off-Label-Use, da sich der
Indikationsanspruch auf das Kindesalter beschränkt.
Mit ausdrücklichem Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom März
2002 erwarten zumindest einzelne Medizinische Dienste der Krankenkassen (MDK) bei
Verordnung an Erwachsene zur Behandlung einer Aufmerksamkeitsstörung detaillierte
"Anamnestische Angaben zu Beginn und Dauer der Erkrankung; aktueller
psychopathologischer Befund, aus dem sich die Schwere der Erkrankung im Einzelfall
ableiten lässt; Angaben zu Dauer der Symptomatik und Ausprägungsgrad in den letzten
zwei bis drei Jahren; konkrete Einzelfall-bezogene Angaben zu den Auswirkungen der
Erkrankung auf Befinden, Partnerbeziehung, Beruf und soziales Umfeld als Gradmesser
der Auswirkungen der Störung und zur Abschätzung der Beeinträchtigung der
Lebensqualität; Prognose hinsichtlich des weiteren Krankheitsverlaufes und seiner
körperlichen und/oder psychosozialen Auswirkungen; Darlegung der bisherigen
medikamentösen Therapien nach Dosis, Applikationsdauer, therapeutischen und
unerwünschten Wirkungen; Darlegung der bisherigen Psychotherapien nach Art, Dauer,
therapeutischen und unerwünschten Wirkungen; Mitteilung, ob die medikamentöse
Behandlung mit der beantragten Wirksubstanz in ein multimodales Konzept eingebunden
werden soll und worin dieses gegebenenfalls besteht."
Es gehe darum, "die nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität auf Dauer für den
Einzelfall zu belegen und für den Einzelfall nachzuweisen, dass andere
Therapiemöglichkeiten (wie z.B. kognitive und Verhaltenstherapie) nicht ausreichend
geholfen haben oder nicht ohne gleichzeitige Pharmakotherapie eingesetzt werden
Der MDK fordert also ein ausführliches Gutachten in jedem Einzelfall, seltsamerweise
aber ohne dabei auf die dritte vom BSG formulierte Bedingung einzugehen, inwiefern "auf
Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden
Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) zu erzielen ist." Zumindest dieser
MDK scheint also davon auszugehen, daß die Wirksamkeit von Methylphenidat bei der
residualen Aufmerksamkeitsstörung (ADS/ADHS) des Erwachsenen hinreichend belegt
ist. Damit räumt dieser MDK aber ein, daß es sich eigentlich nicht um Off-Label-Use
handelt. Mit seinen Forderungen setzt der MDK nur die vom BMGS mit seiner o.g.
Initiative erwarteten Qualitätsanforderungen um, dies allerdings im Vorgriff auf den vom
Welche Auswirkungen die Forderung eines ausführlichen, d.h. mit erheblichem Aufwand
verbundenen Gutachtens in jedem Einzelfall auf die ohnehin bei Erwachsenen mit
ADS/ADHS bestehende Unterversorgung haben wird, soll der Phantasie des Lesers
überlassen bleiben. Dasselbe gilt für den im Vergleich zur o.g. Initiative "vorauseilenden
Gehorsam" dieses MDK. Von Interesse ist aber zu prüfen, inwiefern die Forderungen im
Sinne von Off-Label-Use sachgerecht sind.
Die Zulassung eines Indikationsanspruchs durch die Behörde (hier Bundesinstitut für
Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM) setzt den Beleg von Wirksamkeit,
Verträglichkeit und Unbedenklichkeit in der betroffenen Population - unter Würdigung des
Nutzen-Risiko-Verhältnisses - voraus. Die Zulassung von Methylphenidat beschränkt sich
auf ADS/ADHS im Kindesalter bzw. ohne Altersbindung die Narkolepsie, jeweils im
Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts. Dabei kann eine Zulassung nur für
jenen Indikationsanspruch ausgesprochen werden, der vom Hersteller beantragt wurde.
Die Altersbindung für die Indikation ADS/ADHS ergibt sich daraus, daß zur Zeit ihrer
Beantragung die ADS/ADHS des Erwachsenen weitgehend unerkannt war und
entsprechend keine Studien bei Erwachsenen vorliegen konnten. Hieran hat sich wenig
geändert. Die Übersicht von Krause & Ryffel-Rawak (2000; 2) konnte nur 5 randomisierte
Studien auflisten, die alle an methodischen Mängeln (u.a. geringe Fallzahlen, Crossover-
Design) leiden. Seither sind drei weitere Studien, ebenfalls mit methodischen Mängeln,
publiziert worden. Die Studie von Schubiner et al. (4) untersuchte 48 kokainabhängige
ADS/ADHS-Fälle und ist damit kaum generalisierbar. Die Studie von Dorrego et al. (1)
verglich Methylphenidat mit Lithium im Crossover-Design (und fand vergleichbare
Wirkungen). Die Studie von Kuperman et al. (3) verglich Methylphenidat mit Bupropion
und Placebo bei 30 Patienten und fand nur einen Trend (p=0,14) zugunsten der aktiven
Behandlungen; dieses Scheitern ist möglicherweise der zu geringen Fallzahl
Trotz dieser Mängel hat der o.g. MDK recht, an der Wirksamkeit von Methylphenidat bei
der ADS/ADHS des Erwachsenen nicht zu zweifeln: Grundsätzlich wird
zulassungsrechtlich davon ausgegangen, daß bei Kindern und Erwachsenen bei
identischer Indikation Wirksamkeit gegeben ist. Altersgruppen-spezifischer
Wirksamkeitsnachweis ist zu verlangen, wenn es sich um Indikationen handelt, die nur
altersgebunden vorkommen. In jedem Fall sind aber die altersgebundenen Spezifika der
Pharmakokinetik und damit zusammenhängend der Dosierung gezielt zu untersuchen.
Wenn also - was unzweifelhaft ist - die Wirksamkeit von Methylphenidat bei Kindern mit
ADS/ADHS belegt ist, so darf die Wirksamkeit bei Erwachsenen mit ADS/ADHS
angenommen werden, zumindest vor dem Hintergrund der auch für Erwachsene
Dies gilt nicht notwendigerweise für Verträglichkeit und Unbedenklichkeit. Es ist nicht
auszuschließen, daß sich insbesondere das Abhängigkeitsrisiko bei Erwachsenen anders
als bei Kindern darstellen könnte. Hier wäre aber nicht plausibel zu erwarten, daß sich das
Risiko einer Abhängigkeit zwischen den Indikationen ADS/ADHS des Erwachsenen und
Narkolepsie des Erwachsenen unterscheidet. Ausdrücklich ist Methylphenidat für die
Anwendung bei der Narkolepsie des Erwachsenen zugelassen, d.h. im Analogieschluß
darf das (laut mit der Zulassungsbehörde abgestimmter Fachinformation bei
bestimmungsgemäßem Gebrauch vernachlässigbare) Abhängigkeitsrisiko auch bei
Anwendung in der Indikation ADS/ADHS des Erwachsenen als vertretbar angesehen
Zum bestimmungsgemäßen (zugelassenen) Gebrauch gehören nicht nur Indikation,
Alters- und ggf. Geschlechtsspezifikation, sondern Dosis und Behandlungsdauer. Bleibt
also, daß formelle, methodisch adäquate Dosisfindungsstudien für Methylphenidat im
Erwachsenenalter und Daten zur Behandlungsdauer fehlen. Dies gilt - aus historischen
Gründen - für das Kindesalter gleichermaßen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß (laut
Fachinformation) "die Dosis den Erfordernissen des Einzelfalls angepasst werden muß.
Die Therapie mit Methylphenidat sollte mit einer niedrigen Dosis begonnen und in kleinen
Stufen bis zum Erreichen einer verträglichen und genügend wirksamen Dosis gesteigert
werden. Hierbei gilt der Grundsatz, die Dosis so klein wie möglich zu halten." Die
Notwendigkeit von Dosisfindungsstudien relativiert sich also angesichts der Notwendigkeit
individueller Dosierung. Also kann das Fehlen von Dosisfindungsstudien nicht als Indikator
angesehen werden, die Anwendung von Methylphenidat bei ADS/ADHS des
Erwachsenen stelle Off-Label-Use dar.
Folglich erfüllt die Anwendung von Methylphenidat bei ADS/ADHS des Erwachsenen nicht
das Merkmal, mit dem das BSG eine Leistungspflicht der Krankenkasse bei Off-Label-
Gebrauch ausschließt, nämlich "weil für das neue Anwendungsgebiet weder die
Wirksamkeit noch etwaige Risiken des Arzneimittels in dem nach dem Arzneimittelgesetz
vorgeschriebenen Zulassungsverfahren geprüft worden sind". Folglich kann der MDK
keine umfänglichen Gutachten in jedem Einzelfall fordern - es sei denn, die vom BMGS
initiierte Konsensuskonferenz würde solche Forderungen erheben. Literatur
1. Dorrego MF, Canevaro L, Kuzis G, Sabe L, Starkstein SE: A randomized, double blind,
crossover study of methylphenidate and lithium in adults with attention
deficit/hyperactivity disorder: Preliminary findings. J Neuropsychiatry Clin Neurosci 14
2. Krause J, Ryffel Rawak D: Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit
/Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter. Psycho 26 (2000) 209-223
3. Kuperman S, Perry PJ, Gaffney GR, Lund BC, Bever Stille KA, Arndt S, Holman TL,
Moser DJ, Paulsen JS: Bupropion SR vs. methylphenidate vs. placebo for attention
deficit hyperactivity disorder in adults. Ann Clin Psychiatry 13 (2001) 129-134
4. Schubiner H, Saules KK, Arfken CL, Johanson C E, Schuster CR, Lockhart N,
Edwards A, Donlin J, Pihlgren E: Double blind placebo controlled trial of
methylphenidate in the treatment of adult ADHD patients with comorbid cocaine
dependence. Exp Clin Psychopharmacology 10 (2002) 286-294
5. The European Agency for the Evaluation of Medicinal Products (EMEA): Note for
guidance on clinical investigation of medicinal products in children (1997)
Korrespondenz:
UNPUBLISHED No. 07-4602 Appeal from the United States District Court for the EasternDistrict of North Carolina, at Raleigh. Malcolm J. Howard, SeniorDistrict Judge. (5:06-cr-00007-H)Before KING, Circuit Judge, HAMILTON, Senior Circuit Judge, andHenry F. FLOYD, United States District Judge for the District ofSouth Carolina, sitting by designation. Affirmed by unpublished per curiam opinion.
Evolutionary Change within the UK Pharmaceutical Industry: A Cladist Approach. Graham Leask Aston Business School Aston University Draft Paper to be presented at DRUID January 2002 Abstract This paper seeks to examine the effect of a decade of rapid change within the UK Healthcare environment upon Pharmaceutical Companies. Between 1990 and 1999 the UK Pharmaceutical