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Bericht "NZZ am Sonntag", 12. Juni 2005 Der Berg ruft, die Mediziner kommen
Eine Schweizer Himalaja-Expedition will die Ursachen der Höhenkrankheit klären.

Wen die Höhenkrankheit treffen wird, weiss im Moment noch keiner der fast 70Schweizer Alpinisten, die in den kommenden Wochen den 7546 Meter hohen MuztaghAta in Westchina erklimmen wollen - nicht zum Vergnügen, sondern um dieGeheimnisse der Höhenkrankheit zu entschlüsseln.
In den Höhen des Himalaja ist die Luft so dünn, dass der Mensch nur kurze Zeitüberleben kann. Die Leistungsfähigkeit ist um die Hälfte reduziert. Aber nicht erst amGipfel lauert die Gefahr. Immer wieder spielt der Körper von Extrembergsteigern bereitsbeim Aufstieg verrückt. Sie werden höhenkrank und müssen schleunigst zurück ins Tal.
Wer den richtigen Zeitpunkt verpasst, bleibt womöglich für immer in eisigen Höhen.
Was in der Höhe im Organismus genau passiert, ist nach wie vor nicht bekannt. Dassoll die knapp 800 000 Franken teure Expedition von Höhenmedizinern aus Zürich,Aarau und Bern nun aber ändern. Insgesamt machen sich 8 Probandinnen und 27Probanden sowie 22 Forscher, Bergführer und Medienleute derzeit auf den Weg zumMuztagh Ata. Der erste Tross fliegt noch heute nach Islamabad. Die zweite 20-köpfigeGruppe folgt am Donnerstag. Vier Tonnen Material wurden bereits vorausgeschickt.
An der Seidenstrasse
Von Islamabad aus geht es auf dem Karakorum Highway in die chinesische KlosterstadtSubash an der Seidenstrasse. Dort beginnt der Aufstieg. Zunächst zu Fuss, später aufTourenski. Tagesziel ist das Basislager in 4430 Metern Höhe - 48 Meter niedriger alsder Gipfel des Matterhorns. Der Sauerstoffgehalt der Luft beträgt dort nur noch halb soviel wie auf Meereshöhe. «Jeder zweite Trekker, der zu schnell in solche Höhen steigt,wird nach sechs bis zwölf Stunden höhenkrank», sagt Marco Maggiorini vom UnispitalZürich. Er koordiniert die Forschungsprojekte, die im Rahmen der Expedition «MuztaghAta» durchgeführt werden.
Höhenkrank kann man bereits auf 2500 Metern werden. Dort ist das Blut mit 30 Prozentweniger Sauerstoff beladen als auf Meereshöhe. Mit pulsierenden Kopfschmerzen undeinem flauen Gefühl im Magen wälzen sich kranke Alpinisten in den Matratzenlagernder Berghütten schlaflos hin und her. Weiter oben kann diese «akute Bergkrankheit»immer schlimmer werden. Endstadium ist das Höhenhirnödem. Dabei tritt Wasser aus den Blutgefässen ins Hirnwasser und drückt aufs Gehirn. Die Folge: Die krankenBergsteiger irren orientierungslos und halluzinierend umher. Ruhen sie sich unterwegsaus, stehen manche nie mehr auf. Sie verlieren das Bewusstsein, fallen ins Koma,irgendwann setzt das Atemzentrum aus. «Auslöser sind gestörteRegulationsmechanismen im Gehirn», vermutet Maggiorini.
Bei der zweiten Form der Höhenkrankheit geht den Alpinisten buchstäblich die Luft aus,weil Flüssigkeit aus dem Blut in die Lungenbläschen eindringt. Ursache ist ein zu hoherBlutdruck im Lungenkreislauf. Jeder Schritt fällt dann schwer, der Puls ist ungewöhnlichhoch, und irgendwann rasselt es bei jedem Atemzug. Die Erkrankten husten blutigenSchaum und drohen zu ersticken. Warum der Blutdruck in der Lunge ansteigt, wissendie Mediziner noch nicht genau.
Fest steht aber: «Je mehr Zeit man dem Körper zur Anpassung an die Höhe lässt, destounwahrscheinlicher wird der Ernstfall», sagt Maggiorini. Langsam gehen, lautetdeswegen seine Empfehlung. Das Nachtlager in dünner Luft sollte nicht mehr als 500Meter höher liegen als am Tag davor - das entspricht der Höhendifferenz zwischenParadeplatz und Üetliberg. Das Höhenprofil auf einer Trekkingtour sieht jedoch oftanders aus. So wird der 6000 Meter hohe Kilimandscharo auf der unter Touristenbeliebten «Coca-Cola-Route» in vier Tagen bestiegen.
Wissenschaftlich fundiert sind die Empfehlungen jedoch nicht. Sie beruhen aufanekdotischen Berichten. Die 35 Probanden der Schweizer Expedition werden denMuztagh Ata deshalb in zwei Gruppen besteigen. Die einen marschieren vomBasislager aus in etwa elf Tagen auf den Gipfel; die anderen lassen sich vier Tage mehrZeit. Unterwegs wird die Anpassungsfähigkeit der Versuchskaninchen im Basislagersowie in den drei Hochlagern auf 5500, 6300 und 6900 Metern gründlich untersucht.
Wie die Probanden auf 400 Metern funktionieren, haben die Mediziner bereits zuvor inZürich untersucht. «Wir erwarten, dass sich die langsamere Gruppe besserakklimatisieren wird», sagt Urs Hefti, Arzt und einer der beiden Expeditionsleiter.
Im Fokus der Tests stehen die Gehirn- und die Lungenfunktion. Wie leistungsfähig diemenschliche Schaltzentrale ist, werden den Medizinern am Berg beispielsweiseneurologische Tests und die Analyse der Augenbewegungen verraten. Um dieAtemfrequenz, vermeintliche Atemaussetzer und die Sauerstoffmenge im Blut währenddes Aufstiegs sowie in der Nacht aufzeichnen zu können, werden die Alpinistenzeitweise ein mit Sensoren voll gepacktes «Life-Shirt» anlegen. Hightech verbirgt sichauch in einem Messgerät, das die Probanden am Handgelenk tragen. Rund um die Uhrdokumentiert es die Bewegung des Arms. Die Daten zeigen, wann und wie lange derTräger geschlafen hat. Um die Leistungsfähigkeit in der Höhe zu ermitteln, müssen dieProbanden sogar auf 5500 Metern Höhe in die Pedale eine Fahrradergometers treten.
Die Höhenmediziner vermuten, dass Kopfschmerzen, Übelkeit und Schlafstörungenjeden dritten oder zweiten Probanden plagen werden. Dass ein Ödem auftritt, halten sieaber wegen der gemässigten Aufstiegsprofile für unwahrscheinlich. Wen es trifft, stehtin den Sternen. Alter und Geschlecht spielen keine Rolle. Selbst durchtrainierte underfahrene Teilnehmer sind gegen die Höhenkrankheit nicht gefeit.
Einige Risiken sind aber doch bekannt. «Ein viraler oder bakterieller Infekt steigert dieWahrscheinlichkeit eines Ödems», sagt Marco Maggiorini. Zudem seien Bergsteiger,die bereits ein Höhenlungenödem überstanden haben, besonders gefährdet.
Und inwiefern spielt die genetische Ausstattung eine Rolle? Erfahrungen aus anderenExpeditionen zeigen, dass tibetische Hochlandbewohner besser mit der dünnen Luftzurechtkommen als Mitstreiter aus dem chinesischen Flachland. Ihre Lungen habensich offenbar an die Höhe angepasst, sie sind leistungsfähiger, schlafen besser undsind seltener bergkrank. «Das geht auf jahrtausendelange genetische Adaptionzurück», erklärt Maggiorini. Peter Bärtsch von der Uni Heidelberg verfolgt derzeit eineSpur, die genetische Besonderheiten unter europäischen Bergsteigern offenbarenkönnte. Im Erbgut von Höhenlungenödem-anfälligen Alpinisten und von Patienten, dieunter einer vererbbaren Form des Lungenhochdrucks leiden, sucht er wegen der sichähnelnden Krankheitsbilder nach Gemeinsamkeiten.
Treten erste Symptome einer akuten Bergkrankheit auf, ist eine spontane Rückbildungmöglich. Maggiorini empfiehlt, einen bis zwei Tage zu pausieren und dann - je nachZustand - weiter auf- oder abzusteigen. Leiden die Bergsteiger bereits an einem Ödem,müssen sie allerdings schleunigst in sauerstoffreichere Gefilde.
Zusätzliche Linderung versprechen Medikamente. Cortison hilft beim Hirnödem. DasMedikament Adalat senkt den Lungendruck. Eine Studie, die Maggiorini und Bärtsch inden Walliser Alpen durchgeführt haben, weist darauf hin, dass auch Potenzmittel wieViagra und Cialis vor Lungenhöhenödemen schützen können.
Während sich die Mehrheit der Höhenmediziner mit den beiden Formen derHöhenkrankheit beschäftigt, interessieren sich andere Forscher fürBegleiterscheinungen. So wird am Muztagh Ata von Augenärzten untersucht, wie die inder Höhe auftretenden Netzhautblutungen entstehen und ob sie ein Hirnödemankündigen.
Der Münchner Hals-Nasen-Ohren- Arzt Klaus Mees hat es bei seinen medizinischenExpeditionen auf das Gehör abgesehen. Es ist bekannt, dass einige Alpinisten in derHöhe schlechter hören. Dies, so postuliert Mees, sei ein Vorbote des Höhenhirnödems.
Ein spezieller Hörtest, den er derzeit erprobt, könnte auf das sich zusammenbrauendeUnheil im Kopf hindeuten.
Von solchen Tests hält Maggiorini wenig. Es gebe auch ohne sie genügendWarnzeichen, die den Abbruch einer Bergtour nahelegen. «Wer am Abend in derBerghütte sein Essen stehen lässt, ist schon verdächtig.»Das Problem dabei: Die ehrgeizigen Bergsteiger wollen solche Signale oft nichtwahrhaben. Schwäche zeigen wollen sie schon gar nicht, und deswegen beginnen siezu schummeln. So gaben die Probanden einer Exkursion im Everest-Gebiet imtäglichen Gesundheits-Check an, dass sie sich fit und wohl fühlen. Ein psychologischerFragebogen brachte genau das Gegenteil zutage. «Die Teilnehmer waren in einemdesolaten Zustand und total gestresst», sagt der Arzt und Psychotherapeut MatthiasGlück.
Eisiges Klima
Nach Glücks Ansicht ist die Psyche der Extrembergsteiger das Hauptproblem beimSturm auf die Gipfel. «Durch Ehrgeiz, Konkurrenzdenken und Egoismus bringen sichviele Kletterer selbst in Gefahr, ohne ihre Erfolgsaussichten zu erhöhen», sagt er. ImGegenteil: In der Gruppe der Lügenbarone schaffte es nur jeder Zweite bis zurBergspitze. In einer zweiten Gruppe, die vor dem Expeditionsstart ein dreitägigesAntistress- und Sozialkompetenz-Training absolviert hatte, standen dagegen am Ende75 Prozent auf dem Gipfel. «Je näher der Gipfeltag kam, desto eisiger wurde das Klimain Gruppe eins», berichtet Glück. «In Gruppe zwei war die Stimmung deutlichentspannter.» Glücks Ergebnisse bestätigen auch Erfahrungen aus Nepal. Die Teilnehmer vonorganisierten Gruppen-Trekkingtouren werden deutlich öfter höhenkrank alsIndividualtouristen. Trotz den Resultaten kümmert sich im Vorfeld einer Höhentourjedoch kaum jemand um das soziale Klima. Auch die 35 Probanden der Expedition«Muztagh Ata» werden ohne soziale Schule nach Westchina reisen. Psychischer wiekörperlicher Stress ist indessen programmiert: Etwa drei Wochen sind sie am Berg. InHochlagern werden sie schlaflose Nächte verbringen bei Temperaturen, die bis aufminus 25 Grad Celsius fallen. Wie es ihnen ergangen ist, werden sie spätestens beiihrer Rückkehr am 18. Juli erzählen. Ob mit oder ohne ein bisschen Schönfärberei, wirdman wohl nie erfahren.
Bericht "NZZ am Sonntag", 12. Juni 2005

Source: http://www.swiss-exped.ch/pressreview/nzz_am_sonntag_12062005.pdf

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